Auf Besuch im Landtag – Teil 2 "Wo kommen bloß all die Lehrkräfte her?"
- Veröffentlicht: Samstag, 17. Dezember 2022 10:22
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vermeldete im Oktober, dass 20.000 bis 30.000 Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland fehlen. In Sachsen sollen es 2.000 sein. Der sächsische Staatsminister für Kultus Christian Piwarz (CDU) dementierte diese Zahl nicht, appellierte stattdessen in den Sommerferien an Lehrerinnen und Lehrer in Teilzeit, doch mehr Stunden zu arbeiten.
Da dem Ressortleiter scheinbar nichts wirksameres einfiel als ein Appell, fragte der ACA bei der Besuchsfahrt im Sächsischen Landtag den Koalitionspartner an und sprach mit Christin Melcher. Sie ist bildungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/ Die Grünen und Mitglied im Ausschuss für Schule und Bildung.Frau Melcher, es fehlen Lehrerinnen und Lehrer im ganzen Land. Laut Vertreter*innen der Lehrerschaft und der GEW fehlen in Sachsen über 2.000 Lehrkräfte, um überhaupt die Minimalforderungen der Lehrplanabdeckung zu erfüllen. Wie sehen Sie die Situation?
Selten zuvor stand das Bildungssystem so unter Druck wie derzeit. Die Personalnot an sächsischen Schulen – und bundesweit – ist groß. Es fällt in Größenordnungen Unterricht aus und es gibt keine Reserven, wenn Beschäftigte ausfallen. Ich kann die Unzufriedenheit und die Wut der Lehrkräfte, Beschäftigten, Eltern, Schülerinnen und Schüler gut verstehen. Es frustriert und demotiviert, wenn immer wieder betont wird, wie groß die Lücken sind. Ich wünschte, wir würden die Kraft, die hier verloren geht, in das Schließen dieser Lücken investieren. Dafür muss zunächst deutlich werden, wie viele Lehrkräfte wir wirklich brauchen – das zeigt die Lehrerbedarfsprognose, die endlich veröffentlicht werden muss. Zweitens muss der sächsische Haushalt ausreichend Flexibilität zulassen, damit keine Einstellung an einer fehlenden Stelle scheitert – daran arbeiten wir derzeit intensiv. Und schließlich müssen wir weiter alle Anstrengungen unternehmen, um die vorhandenen Lehrerstellen adäquat nach Region, Fächerkombination und Schulart zu besetzen.
Der sächsische Staatsminister für Kultus Christian Piwarz sieht die Rettung in längeren Arbeitszeiten von Lehrer*innen in Teilzeit. Ein Drittel der Lehrkräfte in Sachsen (10.000) arbeitet in Teilzeit. Wie bewerten Sie seinen Vorschlag?
Es gibt gute Gründe und in der Regel sogar einen Anspruch auf Teilzeit. Auch ist Teilzeit nicht gleich Teilzeit, oft sind Lehrkräfte vollzeitnah beschäftigt. Ihnen fehlende Leistungsbereitschaft oder mangelnde Solidarität vorzuwerfen, geht völlig fehl. Da die Belastung hoch und die konkrete Situation höchst individuell ist, finde ich es richtig, das direkte Gespräch zu suchen. Eine gezielte Ansprache ist jedenfalls gewinnbringender, als die Forderung nach einer pauschalen Kürzung von Anrechnungs- und Ermäßigungsstunden.
Mehr als ein Drittel der Vollzeitkräfte in Sachsen arbeitet laut einer von der GEW geförderten Studie durchschnittlich mehr als 48 Stunden pro Woche. Die Überstunden fallen vor allem durch außerunterrichtliche Aufgaben an – wie Digitalisierung von Lehren und Lernen, der Ganztag, die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, Inklusion, Kinder mit Flucht- und Migrationserfahrungen sowie die Coronapandemie. Wie lässt sich diese Zusatzarbeit anders organisieren?
Wir brauchen mehr multiprofessionelle Teams an Schulen: Schulsozialarbeiter*innen, Schul- assistenzkräfte, Inklusionsassist*innen und Schulpsycholog*innen genauso wie Praxisberater*innen und Berufseinstiegsbegleiter*innen. Die Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen, kommt allen zugute: Es ermöglicht die individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen und entlastet gleichzeitig die Lehrkräfte, die sich dann besser ihrem „Kerngeschäft“, dem Unterricht, widmen können. Wichtig ist, die verschiedenen Professionen an der Schule gut zu koordinieren. Hier kommt der Schulleitung eine zentrale Rolle zu.Laut der GEW Berlin sind 28 Prozent der neu eingestellten Lehrkräfte Quereinsteiger*innen, in Sachsen sind es 52 Prozent, an den sächsischen Grundschulen sogar 66 Prozent. Wie gelingt es die Qualität im Bildungsbereich zu erhalten?
Die Zahlen beziehen sich auf vorangegangene Schuljahre – zum aktuellen Schuljahr 2022/23 lag die Quote der Seiteneinsteiger*innen bei rund 12 Prozent – und sie sinkt weiter. Unverändert richtig ist: Es gibt nach wie vor zu wenig grundständig ausgebildete Lehrkräfte. Auf die 1.500 Stellen, die zum 1. August 2022 zu besetzen waren, haben sich nur 890 vollständig ausgebildete Lehrkräfte beworben. Gleichzeitig sinkt aber auch die Zahl der Fachkräfte, deren Erst-Qualifikation überhaupt einen Seiteneinstieg ermöglicht. Ich finde es falsch, Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger als grundsätzliche Gefährdung der schulischen Qualität abzustempeln. Die Allermeisten haben ein hohes Interesse daran, sich entsprechend weiter zu qualifizieren und meistern über Jahre Doppel- und Mehrfachbelastungen. Wichtig ist mir, dass wir weder die Schulen und Lehrerkollegien noch die Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger alleine lassen. Es braucht ausreichend Möglichkeiten und Zeit für Weiterbildung und Begleitung. Idealerweise sind die Menschen, die vor einigen Jahren den Seiteneinstieg gewagt haben, inzwischen längst „vollwertige“ Lehrkräfte.
Der Baubürgermeister und das Amt für Schule in Leipzig müssen jedes Jahr sechs Schulen ans Netz bringen, um allen Kindern einen Schulplatz anzubieten. Wo kommt das Personal dafür her?
Wichtig sind attraktive Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. Wir haben mit unseren Koalitionspartnern von CDU und SPD bereits viele Maßnahmen ergriffen, um den Lehrkräftemangel kurzfristig zu lindern und mittel- und langfristig zu beheben. Die Zahl der Studienplätze im Lehramt wurde auf inzwischen 2.700 erhöht. Wir rechnen ab dem kommenden Jahr mit etwa 1.700 bis 1.800 Absolventinnen und Absolventen. In Sachsen studieren inzwischen 18 Prozent eines Abiturjahrgangs Lehramt, im Bundesschnitt sind es 10 Prozent. Daneben haben wir Maßnahmen ergriffen, die den Lehrerberuf attraktiver machen: Die Bezahlung der Lehrkräfte, der Referendarinnen und Referendare wurde deutlich verbessert. Es gibt das Anschlussreferendariat und den Anwärtersonderzuschlag, Ausbildungsstätten im ländlichen Raum und das Programm „Perspektive Land“. Es werden mehrere Modellstudiengänge in der Lehramtsausbildung eingerichtet. Nicht zuletzt haben wir durch die Verbeamtung einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Bundesländern kompensiert. Trotz aller Bemühungen brauchen wir künftig mehr Studierende, die ihr Lehramtsstudium erfolgreich abschließen und auch nach dem Referendariat in Sachsen bleiben. Wir brauchen eine weitere Beschleunigung der Anerkennungsverfahren für Lehrkräfte aus dem Ausland. Und wir brauchen neue, vielleicht unkonventionelle Ideen und Wege – zur Behebung des Lehrkräftemangels wird es nicht DIE eine Lösung geben.
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